Leistungen

Wie Social Media den Blick auf seelische Gesundheit verändert

Beiträge zu psychischen Erkrankungen kursieren in den sozialen Medien. Influencer:innen nutzen Fachbegriffe für Alltagssituationen und stellen sich selbst Diagnosen für alltägliche Belastungen aus. Nutzer:innen dieser Inhalte bringen daraufhin eine verzerrte Sichtweise auch mit zum Arbeitsplatz. Was Unternehmen und Betroffene tun können.

Lesezeit: 0 Min.
Eine Frau mit lockigem Haar und einem gelben Shirt sitzt am Fenster und schaut mit nachdenklichem Gesichtsausdruck auf ihr Smartphone.

Auf Social-Media-Plattformen liegen Beiträge zur psychischen Gesundheit im Trend. Dabei zeigt sich ein Muster: Zahlreiche Menschen stellen ohne fachliche Qualifikation psychiatrische (Selbst-)Diagnosen und deuten normale emotionale Zustände zu krankhaften um. Die Algorithmen belohnen einfache Erklärungen und damit die emotional aufgeladenen Posts von Influencer:innen, die sich und ihr Leiden vermarkten. Differenzierte Sichtweisen rutschen dagegen aus dem Blickfeld.

Belastung ist nicht gleich Störung

Die Enttabuisierung psychischer Erkrankungen hat einen positiven Effekt: Menschen sprechen früher über ihre Belastungen und holen sich Unterstützung.

Problematisch wird es, wenn Influencer:innen komplexe Störungsbilder romantisieren oder so stark vereinfachen, dass Nutzer:innen sich zwangsläufig selbst darin wiederfinden
warnt Dr. Claudia Olejniczak, Expertin für das Employee Assistance Program (EAP) bei BG prevent.

Aus Alltagsstress werde schnell „Burn-out“, aus Unsicherheit „Angststörung“. „Dadurch kann sich ein verzerrtes Bild entwickeln, in dem jede Belastung automatisch als Störung gilt.“

Transfer psychologischer Begriffe in den Alltag

Darüber hinaus hat die zunehmende Verwendung psychologischer Fachbegriffe für alltägliche Emotionen ambivalente Effekte. „Sie macht psychische Prozesse sichtbarer, verwässert aber die klinische Bedeutung, wenn wir Wörter wie Trauma oder Trigger für Alltagsärger nutzen“, sagt Olejniczak. Dieses Phänomen beschreibt auch die Soziologin Laura Wiesböck in ihrem Buch „Digitale Diagnosen“.

Gefährliche Identifikation mit der Diagnose

Hinzu kommt, dass viele der Inhalte fehlerhaft sind. So sind laut einer kanadischen Studie die Hälfte der Aussagen in populären Videos zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) fachlich falsch. Doch ob falsch oder richtig: Die Posts und Videoclips beeinflussen das Selbstbild der Nutzer:innen. „Manche identifizieren sich so stark mit ihrer Diagnose, dass es ihnen schwerfällt, die gesunden Anteile in sich zu stärken“, benennt Olejniczak mögliche Folgen.

Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit

Wenn die Menschen sich mit ihrer Diagnose verwechseln, hat das auch Auswirkungen auf ihre Leistungsfähigkeit im Beruf. Hier kann das Employee Assistance Program (EAP) helfen zu differenzieren. „In einer guten Beratung können wir Ressourcen aktivieren und zeigen, dass auch in einer extremen Belastungssituation oder einer Erkrankung Raum ist für Entwicklung“, sagt die Expertin.

Hilfe für Betroffene

  • Selbstwahrnehmung: Neigen Sie dazu, sich aufgrund von Social-Media-Inhalten selbst eine Diagnose zu stellen?

  • Belege: Achten Sie darauf, wie die Aussagen belegt werden. Wer spricht? Werden seriöse Quellen genannt?

  • Konsumreduktion: Gelingt es Ihnen, die Social-Media-Inhalte weniger zu nutzen und sich anderen Interessen zu widmen?

  • Hilfe: Hausärzt:innen, Psychotherapeut:innen, EAP-Berater:innen oder Krisendienste sind die besten Ansprechpersonen für eine qualifizierte Unterstützung.

Führungskräfte können ebenfalls gefordert sein, wenn Begriffe aus Social Media im Büro landen und Mitarbeitende Meetings „toxisch“ nennen oder sich „getriggert“ fühlen. „Führung braucht heute psychologisches Grundverständnis und eine Sprache für Emotionen“, sagt Olejniczak.

Tipps für Führungskräfte

  1. Begriffe klären: Fragen Sie nach Wirkung statt Etiketten: Was genau passiert? Welche Situation löst welche Reaktion aus?

  2. Validieren, nicht pathologisieren: Erkennen Sie das Erleben an, ohne vorschnell Diagnosen zu übernehmen (oder zu verteilen).

  3. Inhalte entzaubern: Erinnern Sie daran, dass digitale Tipps keine Therapie ersetzen.

  4. Strukturen stärken: Klare Rollen, fairer Workload und eine respektvolle Feedback-Kultur helfen, die psychische Gesundheit Ihrer Mitarbeitenden zu stärken. So geraten diese gar nicht erst in Versuchung, aufgrund „toxischer“ Strukturen ein „Trauma“ zu entwickeln.

  5. EAP gezielt nutzen: Die Beratung übersetzt Social-Media-Vokabular in fachliche Konzepte, klärt über psychische Erkrankungen auf und entwickelt Lösungsoptionen, statt Schubladendenken zu fördern.

Alle Beteiligten gewinnen, wenn sie Sprache präzisieren, die Logik hinter den Algorithmen verstehen und professionelle Wege wie das EAP stärken.

Ein reflektierter Umgang heißt auch, nicht alles sofort zu etikettieren. Manches dürfen wir als Teil des Lebens einfach annehmen
, unterstreicht Dr. Claudia Olejniczak.

Weitere Artikel